Bildung und Antisemitismus: Juden als Projektionsfläche

Datum: 
Dienstag, 10. Dezember 2024 - 18:00
Ort: 
Humanwissenschaftliche Fakultät - Herbert-Lewin-Str. 2 - 50931 Köln-Lindenthal
Kategorie: 

Vortrag von Prof. Dr. Stefan Müller:

Sobald eine antisemitische Äußerung oder gar Übergriffe bemerkt werden, dauert es meist nicht lange, bis der Ruf nach Bildung erschallt. Warum eigentlich? Historisch lässt sich nachzeichnen, dass der Antisemitismus auch von Gebildeten kam und legitimiert wurde. Zudem ist weder theoretisch noch empirisch der Zusammenhang so eng, wie es zunächst scheint: der aktuelle israelbezogene Antisemitismus wird auch in Einrichtungen der Bildung, in Hochschulen und im Kunst- und Kulturbetrieb von Intellektuellen artikuliert. Bildung schützt weder automatisch noch zwangsläufig vor Antisemitismus. Im Vortrag wird vor diesem Hintergrund gezeigt und diskutiert, dass eine Bildung gegen Antisemitismus auf einen reflexiven Modus angewiesen ist, um die Ressentiments erkennen, benennen und verändern zu können.

Prof. Dr. Stefan Müller ist Professor für Bildung und Sozialisation unter Bedingungen sozialer Ungleichheiten an der Frankfurt University of Applied Sciences und arbeitet im Forschungsbereich ‚Gesellschaftliches Erbe des Nationalsozialismus'. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. politische Bildung und Antisemitismusprävention. Er ist Mitherausgeber der Buchreihen „Antisemitismus und Bildung" (Wochenschau Verlag), „Gesellschaftsforschung und Kritik" (Beltz Juventa) sowie „Kleine Reihe Soziologie“ (Wochenschau-Verlag). Letzte Veröffentlichung: Mündigkeit in der politischen Bildung, Frankfurt: Wochenschau-Verlag (zusammen mit Elia Scaramuzza)

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Ringvorlesung: "Nie wieder" ist jetzt? Antisemitismus seit dem 7. Oktober
Ringvorlesung mit 9 Gastvorträgen; WiSe 24/25
Termin: Dienstag 18:00 - 19:30, Hörsaal H112 (IBW-Gebäude), Humanwissenschaftliche Fakultät, Herbert-Lewin-Str. 2; 50931 Köln

Der antisemitische Terrorangriff auf Israel am 07. Oktober 2023 hat nicht nur einen kaum beschreibbaren Schock in der israelischen Gesellschaft ausgelöst und eine (re)traumatisierende Wirkung entfaltet. Auch für Jüdinnen:Juden weltweit und für jüdische Communities in Deutschland stellen der Angriff und dessen Folgen eine Zäsur dar: Während jüdische Einrichtungen wie Synagogen in Deutschland schon lange durch Polizei und private Sicherheitsdienste geschützt werden müssen, verweisen der drastische Anstieg antisemitischer Vorfälle und die derzeitige Situation auf eine antisemitische Bedrohungslage neuer Qualität.

„Nie wieder ist jetzt!“ lautete in den Wochen und Monaten nach dem 07. Oktober auch die Parole für Solidaritätsveranstaltungen mit Jüdinnen:Juden. Doch anders als bei der Anti-AfD Protestwelle Anfang 2024 und den Massenmobilisierungen zu Black Lives Matter im Jahre 2020 blieben Massendemonstrationen oder größere Kundgebungen gegen Antisemitismus und in Solidarität mit Israel aus. Vielmehr waren es erst die israelischen Reaktionen auf den Angriff, d.h. der Gaza-Krieg und seine schlimmen Folgen mit mittlerweile mehreren zehntausend palästinensischen Todesopfern, die bundesweit zu anti-israelischen Demonstrationen führten. Bei den Protesten wurde das Massaker des 07. Oktobers oftmals relativiert, teilweise gar zu einem antikolonialen Widerstandsakt stilisiert, es wurden antisemitische Parolen skandiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Die mangelnde Solidarität und emotionale Kälte, mit denen Jüdinnen:Juden in Deutschland konfrontiert waren und sind, wird auch international beklagt. So schrieb die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz über einen Bruch mit vielen Strömungen der internationalen politischen Linken:

„Ein großer Teil der Linken - also die Seite, die seit zwei Jahrhunderten Gleichheit, Freiheit und Menschenwürde verteidigt hat - begrüßte entweder die Nachrichten von den Massakern (‚Widerstand gegen einen Besatzer‘), oder sie hat sie mit intellektuellen Vernebelungsstrategien abgetan. Die Linke hat terrorisierte Juden in der ganzen Welt und in Israel schamlos im Stich gelassen. (…)
Hätte die Linke uns in unserer Trauer nicht wenigstens für einen Moment zur Seite stehen können, so wie es viele Araber weltweit und in Israel getan haben?
Einmal mehr fühlen sich die Juden sehr allein.“ [1]

Der Anstieg des Antisemitismus und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Entwicklungen in der bundesdeutschen postmigrantischen, postnationalsozialistischen und postkolonialen Gesellschaft erfordern tiefergehende Analysen: Welche gesellschaftlichen Dynamiken liegen der neuen Qualität des Antisemitismus zugrunde? In welchem Verhältnis stehen Rassismus und Antisemitismus, Zionismus und Kolonialismus sowie Antisemitismus und Antizionismus? Welche Bedeutung haben der 07. Oktober und dessen Folgen für jüdische Communities in Deutschland? Wie sehen effektive Konzepte zur Bekämpfung des Antisemitismus aus? Welche Potentiale und Grenzen haben Aufklärung und Bildung? Diesen und weiteren Fragen wollen wir uns in einer Ringvorlesung aus interdisziplinärer Perspektive widmen.

Diese Ringvorlesung wird gefördert aus Landesmitteln NRW bzw. aus dem Fonds zur Bekämpfung von Antisemitismus und findet in Kooperation mit dem Bündnis gegen Antisemitismus Köln und dem AStA der Universität zu Köln statt.

[1] Illouz, Eva (2023): Wir, die Linken? Nicht mehr. In: Süddeutsche Zeitung (27. Oktober 2023). Online unter: https://archive.ph/BGITg

Team: Prof. Dr. Gudrun Hentges, Felix Kirchhof, Jasamin Mirgolbabaei

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